Die Ausstellung zeigt die Ergebnisse eines zweisemestrigen Lehrforschungsprojektes (2020/21), in dessen Rahmen sich Studierende der Europäischen Ethnologie der Universität Innsbruck einem faszinierenden Mikrokosmos der Stadt ethnografisch angenähert haben: den Innsbrucker Bögen. Der sich über 1700 Meter entlang der Ing.-Etzel-Straße erstreckende Bögenviadukt präsentierte sich ihnen als ein vielschichtiger Raum, in dem drastische Gegensätze widerspruchsfrei zu einer Einheit verschmelzen. In Pandemiezeiten traten zudem neue Facetten der Bögen zum Vorschein – eine ansonsten selten dort anzutreffende Menschenleere und Stille, die den Blick auf die kleinen, unscheinbaren und unsichtbaren Dinge öffneten: Welche wirkmächtigen Materien affizieren die Sinne? Welche „verkehrten“ Ordnungen drängen sich auf? Wo lassen sich liminale Zwischenräume finden? Inwiefern schreiben sich Ethnograf:innen in den Bögen-Text ein? Wie kann das Unsichtbare der Bögen ethnografisch festgehalten werden?
Im Modus des Gehens versuchten wir uns sinnlich-körperlich auf die Bögen einzulassen, uns ihrem spezifischen Rhythmus anzupassen und das Flüchtige des gelebten urbanen Raumes in Wahrnehmungsberichten und mit Kameras einzufangen. Auf diese Weise entstanden die hier präsentierten Transitbilder (Michel de Certeau), die nicht nur die Offenheit, Vielschichtigkeit, Multisensualität und Intersubjektivität einer Bögen-Erfahrung dokumentieren, sondern uns daran erinnern, dass wir uns stets selbst in den Bögen-Raum eingeschrieben und diesen aktiv mitgestaltet haben. Insofern lassen sich die Bögen als ein Ort verstehen, der sich erst durch die darin vollzogenen Bewegungen, die kollektiven und individuellen Vorstellungen sowie sinnlichkörperlichen Erfahrungen zu einem gelebten Raum verdichtet. Mit der Schau möchten wir Euch in den kreativen Raumproduktionsprozess involvieren und dazu einladen, mit geschärften Sinnen in den Mikrokosmos Viadukt einzutauchen und einen Bögen-Gang aus der Perspektive ethnografischer Stadtgänger:innen (Johanna Rolshoven) nachzuempfinden: Gemma Bögen!
Von Kaiser Franz Josef II. beauftragt, wurde der Eisenbahn-Viadukt in
den Jahren 1853–1858 unter der Leitung des Ingenieurs Carl von Ghega
erbaut. In den 1870er Jahren sahen sich rund 300 Geringverdiener:innen
gezwungen, die unter den Viaduktbögen entstandenen Räume zu Wohnungen zu
nehmen. Die Bedingungen waren schwierig: Kanalisation und Wasserleitungen
gab es nicht. Nachdem der Gemeinderat acht Jahre später aus moralischen
Gründen ein Wohnverbot verordnete, wurden die Bögen als Ochsenställe
genutzt. Doch verschlimmerte sich die Wohnsituation im Ersten Weltkrieg,
sodass abermals Menschen dort untergebracht werden mussten. Ab den
1920er Jahren mieteten Gewerbetreibende die Räume an, darunter Therese
Mölk, die hier ihr Lebensmittelgeschäft eröffnete; heute kennen wir das
Familienunternehmen unter dem Namen MPreis.
Am 5. April 1938 besuchte Adolf Hitler Innsbruck und fuhr – von Jubel und
Willkommensrufen begleitet – mit dem Zug über den Viadukt in die Stadt
ein. Nur sechs Jahre später wurden die Bögen bei einem Luftangriff stark
beschädigt. Nach Renovierungsarbeiten in den 1950er Jahren herrschte hier
ein reges wirtschaftliches Treiben: Innsbrucker Firmen mieteten die Bögen
als Werkstätten, Magazine und Geschäftslokale an. Zu Beginn der 1990er
Jahre entstand im oberen Bereich der Ing.-Etzel-Straße eine lebhafte
Nachtgastronomie. Seither wird die Ausgehmeile von Innsbrucker:innen
„die Bögen“ genannt.
Die Fotografie dient uns als Instrument, um sinnliche Eindrücke sowie
die Bögen-Atmosphären festzuhalten. Die hier gezeigten Transitbilder
entstanden im Modus des Gehens, der uns erlaubte, uns dem spezifischen
Rhythmus der Bögen anzupassen: Wer in der Stadt stehen bleibt,
fällt auf und macht sich verdächtig!
Ethnograf:innen sind untrennbar mit ihrem Feld verbunden und schaffen
überhaupt erst den Raum, den sie beschreiben. Diese Aufnahmen
dokumentieren die Wechselwirkung zwischen Forschenden und Feld sowie
den Prozess der Raumproduktion: Als Spiegelbild in Fensterscheiben
oder als Schattengestalt auf dem Asphalt hinterlassen wir Spuren und
schreiben uns subtil in das Feld ein. Damit sind die Fotografien weniger
„wahrheitsgetreue“ Abbilder der Bögen, vielmehr spiegeln sich in ihnen
kulturell geprägte Wahrnehmungs- und Visualisierungsweisen urbaner
Räume sowie der subjektive Charakter einer Felderfahrung.
„Ich hole meine Kamera heraus und versuche, all meine Gedanken in
einem Foto festzuhalten. Ich weiß, dass die Fotografie nur eine
erstarrte, visuelle Widergabe dessen ist, was ich gerade vor mir
sehe, und nicht erklären wird, was ich spüre und wahrnehme.“
(Helene Wolf, Wahrnehmungsbericht, 24. März 2020)
Ungeachtet aller Versuche, als Beobachter:innen nicht aufzufallen,
wurden wir gelegentlich selbst zum Gegenstand der Beobachtung. Nicht
nur zogen wir Blicke der Passant:innen auf uns, sondern spürten auch
die Anwesenheit der uns Unbehagen bereitenden Überwachungskameras,
die in der Waffenverbotszone der Innsbrucker Bögen angebracht sind.
Diese wechselseitigen Beobachtungsprozesse lassen an das Foucault’sche
Panoptikum denken und werfen Fragen auf: Wer beobachtet hier eigentlich
wen? Wer darf wen beobachten? Können wir uns der Beobachtung entziehen?
Welche Machtstrukturen lassen sich bei einem Gang durch
die Bögen identifizieren?
„Da ich auch auf der Suche nach Fotomotiven bin, habe ich
eine Spiegelreflexkamera dabei, weshalb ich manchmal etwas
irritiert von vorbeigehenden Passanten gemustert werde.“
(Tara Lanzendorfer, Wahrnehmungsbericht, 7. März 2020)
„Für mich ist die Perspektive entscheidend für Diskurse: Wer
spricht von den Bögen und wie entsteht durch Erzählungen
der Raum ‚DIE BÖGEN‘? [...] Die Kameras sind sehr
offensichtlich installiert. Für mich hat Videoüberwachung
immer etwas von einer panoptischen Überwachungsstruktur.“
(L.S. anonymisiert, Wahrnehmungsbericht, März 2020)
Mittels der sinnlichen Ethnografie konnten wir uns buchstäblich auf die
Bögen besinnen. Das bewusste Tasten, Hören, Schmecken, Riechen und Sehen
der Bögen eröffnete uns neue Weisen des Erlebens und des Erkenntnisgewinns.
Bei der Lektüre von Walter Benjamins „Haschisch in Marseille“ stellten
wir fest, dass die sinnlich-ethnografische Erfahrung einer Rauscherfahrung
nahekommt. Denn auch unsere Sinne werden berauscht und geleitet vom Feld,
die Wahrnehmung verschiebt sich: Was im Hintergrund schlummerte wird scharf,
während das Vordergründige zu verschwimmen beginnt. Die Forschenden wie
die Berauschten begegnen dem Raum auf neuen Ebenen und erhalten so tiefe
Einblicke in die Dinglichkeit der Welt. Der Rausch der Sinne, so ließe
sich mit Benjamin sagen, lockert die Dinge aus ihrer gewohnten Umgebung.
Im Lockdown blieb uns allein die Erinnerung an dionysische Bögen-Nächte,
erfüllt von blitzenden Farblichtern, typischen Gerüchen – von Marihuana
über Pizza bis hin zu Erbrochenem –, vermischt mit lärmenden Frohsinnsrufen
der Nachtschwärmer:innen, untermalt von den hohen Klängen einfahrender
Züge und dem tiefen Brummen von Bässen, die den Leib in Vibration versetzen.
„Der Lärm übertönt für kurze Zeit die Sinne und erschüttert alle Steine,
die ihn [den Viadukt] tragen, bei jedem Zug, ein jedes Mal erneut.“
(Sarah Erlebach, Wahrnehmungsbericht, 8. März 2020)
„Die ersten Bögen stellen sich im Unterschied zu den schillernden Erinnerungen
an die verspielten Nächte und gebliebenen Bilder von Ungewissheit, Belebtheit,
Freude, Freiheit, Fülle und Erwartung ganz anders dar. Anstelle dessen tritt
ein Gefühl der Kälte und Leere einer regnerischen Nacht zu Beginn des März.
Der Ort ähnelt mehr einer verlassenen Stadt als einem Ort der Möglichkeiten.“
(Johannes Klocker, Wahrnehmungsbericht, März 2020)
„[E]s riecht nach Stadt. Nach Verkehr, Abgasen, teilweise nach dem Müll, der von
den Metallgittern herunterhängt oder den Mülleimern, etwas ungewaschen, da mir
dann ein obdachloser Mann begegnete, oder kurz darauf nach teurem Frauenparfüm
von der hektischen Dame, welche an mir vorbei hechtete, frischem Brot [...].
Alles in allem für mich eine klassische Mischung von Stadtgerüchen.“
(Laura Gander, Wahrnehmungsbericht, März 2020)
Beim Passieren des Viadukts werden unverwechselbare Bögen-Atmosphären
leiblich spürbar. Sie werden erzeugt von Schattenspielen an Fassaden,
Lichtern der Ampeln, aus Abzügen emporsteigendem Rauch, dem Klang
hereinrollender Züge, der Farbigkeit eines aufblitzenden Graffito, dem
plötzlich vernommenen Reifengeruch, einer geschäftig an uns vorbeischreitenden Person. Die sich mit den Wetterverhältnissen und den Tagessowie Jahreswechseln unablässig transformierenden Atmosphären haben
dabei einen eigentümlichen Zwischenstatus: Sie vermitteln zwischen den
Erscheinungsweisen der Umwelt und der Wahrnehmung der Menschen. Die
Atmosphäre lässt sich daher auch treffend als eine Herumwirklichkeit
(Karlfried von Dürckheim) charakterisieren. Im Ausstellungsraum
versuchen wir, die in den Bögen erfahrbaren ephemeren Atmosphären
durch die Anordnung der Bilder, die interferierenden Klänge und die
Lichtprojektionen zu (re)produzieren und damit das Unsichtbare
der Bögen sichtbar zu machen.
„Genauso scheint die Luft heute die Bögen zu umgeben. Sie
verleiht ihnen etwas Mystisches und gleichzeitig etwas
Deprimierendes. Ich bin erstaunt, wie sehr Gegenstände und
ihr schlichtes Dasein meine Stimmung und die allgemeine
Atmosphäre prägen können. Erst wenn man anfängt, bewusst darüber
nachzudenken, fällt einem auf, wie viel Wirkung Gebäude und
Umgebungen auf unsere Laune und unsere Empfindungen haben können.“
(Helene Wolf, Wahrnehmungsbericht, 24. März 2020)
„Die Bögen erscheinen mir beeindruckend, dunkel und mächtig.“
(Stefan Ouroumidis, Wahrnehmungsbericht, 14. März 2020)
„Einige in der Ferne grölend, durch die leeren Straßen der
Bögen Wandelnden, von nächtlichen Abenteuern Rückkehrenden,
oder noch danach Suchenden, fügen sich in die ruhige, angenehme,
regnerische, nächtliche, nostalgische Atmosphäre ein.“
(Johannes Klocker, Wahrnehmungsbericht, März 2020)
Architektur prägt unsere Vorstellungen von Stadt und beeinflusst die Weisen,
in denen wir uns im Raum bewegen. So tragen uns die Bögen die ihnen innewohnende Logik der Linie auf, indem sie unseren Gang und Blick linienförmig ausrichten. Ihre spezifische Bauform ist gekennzeichnet durch
aneinandergereihte uniforme höhlenartige Nischen; wenngleich uns die bunten
Fassaden den kreativen Umgang mit ihrer Uniformität vor Augen stellen.
Auch zwischen den Baumaterialien und dem kulturellen Imaginären einer
Stadt besteht ein Konnex. Für Innsbruck ist die Höttinger Breccie
charakteristisch, ein Sedimentgestein, das in den Steinbrüchen der
Nordkette abgebaut und auch für den Bau der Bögen verwendet wurde.
In Verbindung mit anderen wirkmächtigen Baumaterialien wie Backstein,
Holz, Stahl und Glas werden die Bögen buchstäblich für uns greifbar.
Zusammen mit den Alltagspraktiken, Diskursen, Bewegungen und kollektiven
wie individuellen Vorstellungen verschmelzen die Architektur und die
Baustoffe der Bögen zu einer Soziomaterialität.
„So unterschiedlich die Bögen selbst gestaltet sind, so unterschiedlich
können deren Eindrücke sein. Mal ist ein Bogen unscheinbar, mal bunt, wie
es gefällt. Ein anderes Mal scheint ein ruhig geglaubter nicht mehr zur
Ruhe kommen zu wollen. Und der belebt in Erinnerung gebliebene scheint
seit langem unbewohnt. Nur durch Ihre Architektur werden sie vereint.“
(Sarah Erlebach, Wahrnehmungsbericht, 8. März 2020)
„Grau in Grau, Stein auf Stein stehen die Viaduktbögen beständig
erdend als verbindendes Element zwischen den Bewohner:innen
der Stadt. Der tiefe Bariton der durchfahrenden Züge, der über
meinem Kopf rattert und im Unterleib vibriert, offenbart die
primäre Funktion der Bogenmeile als pulsierende Mobilitätsader.“
(Anisa Schlichtling, Wahrnehmungsbericht, März 2020)
„Ich berühre den Stein des Bauwerks, er ist grob und rau,
man erkennt verschieden zusammengesetzte Gesteinsanteile.
Es handelt sich beim Gestein um sogenannte Höttinger Brekzie.“
(Stefan Ouroumidis, Wahrnehmungsbericht, 14. März 2020)
Wie Sherlock Holmes begeben sich auch Europäische Ethnolog:innen auf
Spurensuche. Denn es gilt gerade auch die vergessenen und versteckten
Dinge in den Blick zu nehmen, sich von ihnen affizieren und provozieren
zu lassen. Und es sind vielfach die unscheinbar wirkenden menschlichen
Hinterlassenschaften, die uns auf neue Fährten locken und als Schlüssel
zum Verständnis des Alltags dienen: Warum hat jemand eine halbvolle
Bierflasche oder einen leeren Einkaufswagen abgestellt? Was kann uns die
Kaugummidichte auf dem Asphalt über die Raumnutzung verraten? Wie kommt es,
dass hier der Müll über den Köpfen schwebt? Welche Tür lässt sich
mit diesem Schlüssel öffnen?
Alles wird bedeutsam, wenn wir davon ausgehen, dass Materien und Dinge
eloquent, wirkmächtig oder gar widerspenstig sind. In der Konfrontation
mit vergessenen und versteckten Dingen bemerken wir zudem, dass die
Grenzen zwischen Verdrängung und Sichtbarmachung, Lust und Ekel, Trash
und Treasure fließend sind und immer wieder neu ausgehandelt werden müssen.
Dies gilt auch für die Grenzen zwischen Natur und Kultur ...
„Müll über mir, in einem Schacht, welcher wahrscheinlich oben zur Gleisebene
offen war. Auch auf dem Boden lag überall Müll, vom Zigarettenstummel bis hin
zu den Papiersäcken war alles vorhanden auf der gesamt geteerten Straße, obwohl
es immer wieder Mülleimer gab. Doch gab es wirklich viel Müll auf der Straße
oder kam mir das nur vor, weil ich sonst nicht so bewusst darauf achtete.“
(Nora Platzgummer, Wahrnehmungsbericht, 11. März 2020)
„An einer Stelle sehe ich ein noch zur Hälfte gefülltes Bierglas
an der Wand stehen. Hier könnte womöglich die Detektivarbeit
beginnen: Die Flasche ist wohl ein Relikt aus der vergangenen
Nacht, denke ich mir. Wohin könnte sie mich führen?“
(Stefan Ouroumidis, Wahrnehmungsbericht, 14. März 2020)
„Was mir am Beginn der Bögen auch noch aufgefallen ist, sind
die vielen Kaugummis, die schon in den Boden getreten sind.
Gegen Ende der Bogenmeile werden es immer weniger.“
(Debora Burtscher, Wahrnehmungsbericht, 11. März 2020)
Die Bögen sind ein Raum der kulturellen Produktion und der Begegnung von
Menschen. Zugleich bieten sie auch Lebensraum für verschiedene Organismen,
Pflanzen und Tiere, die erst bei näherer Betrachtung in Erscheinung
treten. Besonders an den Rändern, in den Nischen und Ritzen zeigten
sich uns symbiotische Verflechtungen und Verschmelzungen von vermeintlich
natürlichen und kulturellen Sphären, die wir fotografisch zu dokumentieren
suchten. Die sinnlich-körperliche Einlassung und das Heranzoomen mittels
des Kameraobjektivs ließen uns empfindsam werden für die in den Bögen
auffindbaren NaturenKulturen.
„An den kleinen Grünstellen bei den Bäumen lassen sich abgesehen von weiterem
Plastikmüll auch vereinzelt ein paar Glasflaschen feststellen, welche dort
liegengelassen wurden. Auch der Wind hat in der Nähe dieser Grünflächen seine Spuren
hinterlassen, da sich überall auf dem Boden verteilt kleine Blätter finden lassen.“
(Joshua Gschwentner, Wahrnehmungsbericht, März 2020)
„Sogleich fließt ein frischer sommerlicher Duft in das Gebräu
der Stadtluft ein. Eine Mixtur, welche durchwegs auch Noten von
Blumen, Bäumen und nassem Gras in sich trägt und paradoxerweise
im Einklang mit den Essenzen des Asphaltes, der Auspuffgase der
Taxis, der nach musikdröhnenden Lieferwägen, oder der einfach
durchziehenden Autos steht und sanft meine Riechzellen kitzelt.“
(Johannes Klocker, Wahrnehmungsbericht, März 2020)
„Hier steht ein älter aussehender, gut erhaltener Bauernhof auf dem letzten Grundstück,
gegenüber dem letzten Bogendurchgang vor dem Fluss. Eine Holzhütte, die mit dem Gehsteig
abschließt und ein Stall mit tierischen Gerüchen aus dem sich eine Kuh lautstark meldet ...“
(Sarah Erlebach, Wahrnehmungsbericht, 8. März 2020)
Viele von uns passieren die Bögen täglich: beim Einfahren in die Stadt,
um von West nach Ost, vom Zentrum in die Peripherie und umgekehrt zu
gelangen. Diese zwischen zwei Orten vollzogenen Bewegungen verleihen den
Bögen die Spezifik eines Übergangsraums, der für flüchtige Begegnungen
beim Ein- und Aussteigen in die Straßenbahn, prekäre Momente des NochErwischens eines Zuges, die besinnliche Vorbereitungszeit auf dem Weg zur
Arbeit steht. Bei Nacht werden Übergangsräume gelegentlich als unangenehm
erfahren, mit Gefahr assoziiert oder bereiten uns einen Nervenkitzel.
Zugleich beherbergt der Viadukt Nischen in Gestalt der einzelnen
Bögen, die sich als kleine Zwischenräume mit ihren je eigenen Logiken
charakterisieren lassen. Das Überschreiten ihrer Schwellen erlaubt uns
gelegentlich ein Tauchen in kreative Frei- oder Spielräume. Ferner wird
das „Inbetween“ (Tim Ingold) der Bögen erfahrbar, wenn wir uns vom Strom
ihrer Klänge, Gerüche und Atmosphären arteriell durchdringen lassen.
„Immer wieder, in fast regelmäßigen Abständen gibt
es [...] Durchgänge. Sie sind ins Straßennetz der
Stadt integriert und bieten Durchlass zu weiteren
Wegen, die zu anderen Orten der Stadt führen.“
(Sarah Erlebach, Wahrnehmungsbericht, 8. März 2020)
„Die meisten Menschen, die ich an mir vorbeigehen sehe,
scheinen die Bogenmeile quasi als Übergangsort zu nutzen ...“
(Joshua Gschwentner, Wahrnehmungsbericht, März 2020)
„Sie [die Bögen] sind ein Übergangsraum, der sich in die Umgebung einfügt.“
(Stefan Ouroumidis, Wahrnehmungsbericht, 14. März 2020)
Mit zunehmender Einlassung auf das Feld und die sich konstituierenden
Atmosphären, mit dem Vordringen in die Sphären der Dinglichkeit scheint
der alltägliche Sprachgebrauch zur Beschreibung des Erlebten an seine
Grenzen zu stoßen. Die Bögen sprechen uns an und machen uns sprachlos:
Wie können wir die Spezifik der Bögen, ihren eigentümlichen Geruch,
die uns umgebende Klangkulisse und Atmosphäre adäquat in Worte fassen?
Niemals dürfen die Bögen, so ließe sich mit Italo Calvino sagen, mit
der Rede verwechselt werden, die sie beschreibt. Das Ausweichen in die
Sprache der Bilder und der Poesie bietet eine Möglichkeit, das nicht
Beschreibbare, doch unhintergehbar Präsente und Erlebbare auszudrücken.
Dichterisch drängen sich uns die Bögen auf und leihen sich unseren Mund,
um ihre ganz eigene Poesie zur Sprache zu bringen.
„Wie ein offenes Buch lese ich in den Bögen über die Bewohner:innen der Stadt und
über meine eigenen tiefen Regungen. [...] Gerade in dem Aspekt der Vielschichtigkeit,
der Flüchtigkeit und Wandelbarkeit liegt die Schönheit der Bögen ...“
(Anisa Schlichtling, Wahrnehmungsbericht, März 2020)
Die sonst so lebendigen, vielseitigen Nischen, die sich
vor Ansturm in einer lauen Sommernacht oder an einem warmen
Sonntagmorgen kaum retten können, stemmen sich nun reglos
und unbeweglich aus dem Boden. Überall geschlossene Türen.
(Helene Nora Wolf, Wahrnehmungsbericht, 24. März 2020)
„Unzusammenhängende Kritzeleien, ein Meer aus Stickern, Tags,
Graffitis und Postern, zusammengetragen von den unterschiedlichen
Individuen, die sich hier wohl verewigen mochten, oder ihre
Chance sahen, an diesem gut besuchten und von Offenheit
versprechenden Ort, ihre Botschaft zu verbreiten.“
(Johannes Klocker, Wahrnehmungsbericht, März 2020)
Johannes Klocker
Lienz 1994
Tobias Kuba
Hall in Tirol 1998
Clemens Engel Innsbruck 1991
Sensory Pipe (Gathering Senses), 2020–2021
Stahl, Polyurethan, Holz, Pappmaché, Karton, Beton, Ziegelstein und anderer Müll oder Schrott
Leihgabe aus Privatbesitz
Im Gang durch die Ausstellung umkreisen wir die Sensory Pipe (Gathering Senses), in der unsere in den Bögen gemachten Erfahrungen kulminieren. Auch verschmelzen darin ethnografische und künstlerische Ideen: die Skulptur von Tobias Kuba umschlingt die Röhre, die Johannes Klocker und Clemens Engel für ihre audiovisuellen Kompositionen verwenden. Die Stoffe und Elemente, aus denen die Sensory Pipe (Gathering Senses) besteht – das Kartonrohr, die Ziegelsteine, die Schaufensterpuppe –, haben ihre Schöpfer im Sperrmüll gefunden. Doch ist Müll nicht immer eine Frage der Perspektive? Diese ungewollten, verdrängten, vermeintlich nutzlosen und entsorgten Dinge wurden recycelt zu einer Assemblage zusammengefügt und mit neuer Bedeutung aufgeladen. Die Schaufensterpuppe, deren Arme aus Stahl und Ziegel emporragen und das Kartonrohr tragen, versinnbildlicht die Verstrickung von Körperlichkeit und Materialität in einer Bögen-Erfahrung.
Schaue durch das Rohr, entdecke kleine Nischen und Zwischenräume, erfahre Nähe und Distanz zu den versteckten und vergessenen Dingen, zoome Dich heran an die vibrierenden Materien, lausche dem spezifischen Bögen-Sound, erlebe die ungewöhnliche Menschenleere der Pandemiezeit, lasse die Atmosphären und die Poesie der Bögen auf Dich wirken, berausche Deine Sinne und schärfe sie für Deinen nächsten Bögen-Gang.